Der Ausgangspunkt: Die Überlebenskrise der Menschheit
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Menschheit vor dem Abgrund sozialer Umwälzungen und weltweiter Zerstörung. Der Klimawandel mit seinen ungeheuren Auswirkungen, die Migrationsströme, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die stetig wachsende Kluft zwischen Reich und Arm sowie zwischen den Ländern des Nordens und des Südens bedroht das Überleben der Menschheit und des Planeten Erden in bisher ungeahntem Ausmaß. Auch droht das globale Finanzsystem die Wirtschaft und die soziale Kohärenz in ungezählten Ländern zu zerstören. Diese Umwälzungen haben eine gemeinsame Wurzel in der sogenannten Moderne, die ursprünglich in Europa entstand und inzwischen durch kulturelle, strukturelle und direkte Gewalt globalisiert wurde. Sie hat die menschliche Vernunft, die solche Krisen doch erstnehmen müsste, in eine rein technische, instrumentelle Rationalität verwandelt, die alles wirtschaftliche Handeln bestimmt.
Als 2017 das 500jährige Reformationsjubiläum gefeiert wurde, richteten wir den Blick auch auf den Beitrag der Reformation zur verhängnisvollen Entwicklung der entstehenden Moderne. Gleichzeitig traten aber auch die kritischen und konstruktiven Impulse der Reformation in den Vordergrund, die sowohl den Frühkapitalismus mit seinen unmenschlichen Prinzipien als auch die Allianz zwischen Kirche, Staat und Ökonomie in Frage stellten. Aus dem Rückgriff auf das befreiende Potential der biblischen Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität lassen sich alternative Modelle des Wirtschaftens und des Zusammenlebens in einer Welt entwickeln. Darum verbinden wir die Auseinandersetzung mit der Überlebenskrise mit der Erinnerung an diese reformatorischen und biblischen Überlieferungen.
Die Entstehung der Moderne
Die Periode der Moderne begann schon im Mittelalter. Die ersten Hegemonialmächte in der Neuzeit waren Spanien und die oberitalienischen Bank- und Handelsstädte wie Genua und Florenz. Aber im 17. Jahrhundert übernahmen Länder, in denen der Protestantismus überwog, die Führung: zuerst die Niederlande (ursprünglich eine spanische Provinz), dann Großbritannien und schließlich die USA. Die USA und Europa sind bis heute die treibenden Kräfte dieser Zivilisation, die inzwischen den gesamten Globus prägt. Gegenwärtig verbrauchen die USA begrenzte natürliche Ressourcen in einem Maße, als stünden ihnen sechs Planeten zur Verfügung, die Europäer, als hätten sie drei Planeten. Überdies hat die Finanzkrise von 2008 nicht nur extreme Armut und Hunger in vielen Teilen der Welt vermehrt (im globalen Süden und im Osten Europas), sondern auch im Norden selbst Arbeitslosigkeit und Armut wachsen lassen. Statt das kapitalistische System finanzieller Gier zu überwinden, haben westliche Regierungen es mit öffentlichen (Steuer)geldern gestützt. Die Covid-19-Pandemie hat das neoliberale globale Wirtschaftssystem an seine Grenzen geführt. Die Rückwendung zu nationalistischem Gedankengut und autoritaristischen politischen Konzepten stürzt zahlreiche Demokratien in die Krise.
Welche verheißungsvollen Perspektiven lassen sich daher aus dem reformatorischen und biblischen Erbe gewinnen?
Die erste und grundlegende Perspektive: Der biblische Vorrang der Ausgeschlossenen und Marginalisierten
Luthers Reformation im 16. Jahrhundert speiste sich aus den ursprünglichen Quellen, Schrift und Urchristentum, um aus diesen Wurzeln heraus die real existierende Kirche zu erneuern. Das wurde mit dem Anspruch begründet, dass die Schrift letztgültiges Kriterium (norma normans) zur Beurteilung jeglicher Tradition sowie der sozio-ökonomischen, politischen und kirchliche Realität sei. Aber welche Schrift? Die sozialgeschichtliche Bibelforschung hat unser Hören auf die Texte dadurch geschärft, dass sie deren Kontexte ernst nimmt. Das entscheidende Ergebnis dieser Neulektüre der Texte ist, dass sich Gott in den biblischen Erzählungen mit den Opfern der herrschenden Systeme identifiziert und sie zu Akteuren für alternative Gemeinschaften in neuen gerechten Beziehungen macht: die Sklaven (Exodus), die, die unter unbezahlbaren Schulden leiden (Deuteronomium 15, die 5. Bitte des Vaterunsers), die Armen (Lukas 4), usw. Der Apostel Paulus fasst dies im 1. Korintherbrief (1,26-28) so zusammen:
Seht doch eure Berufung an, Geschwister: Es sind nämlich nicht viele Weise von ihrer *Herkunft her, nicht viele Mächtige, nicht viele aus den Elitefamilien unter euch. Vielmehr hat Gott die Ungebildeten der Welt erwählt, um die Weisen zu beschämen; und die Schwachen der Welt hat Gott erwählt, um die Starken zu beschämen. Und die Geringen und die Verachteten der Welt hat Gott erwählt, die nichts gelten, um denen, die etwas sind, die Macht zu nehmen.
Am deutlichsten ist dies in der Erzählung vom „Menschlichen“ ausgedrückt, der zum Gericht über alle Völker kommt (Matthäus 25, 31ff.). Er nimmt die an, die für die Befriedigung der Grundbedürfnisse der „Geringsten“ gesorgt haben. Diejenigen aber, die den Messias nicht in denen aufgenommen haben, die in Not sind (wozu heute die Erde als solche gehört), verstößt er. Jesus gibt also diesen „Geringsten“, die die Opfer systemischer und persönlicher Ungerechtigkeiten sind, die Priorität, er befreit sie und macht sie zu Akteuren für Gottes herrschaftsfreie Ordnung („Reich Gottes“). Zu diesen Hungernden, Obdachlosen, Flüchtlingen und Verletzlichen gehören heute u.a.: Kinder, Frauen, vom Kolonialismus unterworfene indigene Völker, städtische und ländliche Arme, Erwerbslose, Menschen mit Behinderung, Alte, prekär Beschäftigte, von Militär Unterdrückte, Flüchtlinge, Menschen anderen oder keines Glaubens und viele andere.
Die zweite Perspektive: Eine neue Weise, die Bibel zu lesen
- Die Jesusbewegung stellte sich den Eliten in Judäa entgegen, die mit dem römischen Imperium kollaborierten, nicht aber gegen das Judentum und die Tora an sich.
- Persönliche und strukturelle Gerechtigkeit, einschließlich der Befreiung von Unterdrückung und gieriger Akkumulation, ist das Herz des christlichen Glaubens.
- Alle konstantinische Theologie, vor allem die Christologie und Ekklesiologie muss grundlegend neu durchdacht werden.
- Allen imperialen Strukturen und Verhaltensweisen muss widerstanden werden.
- Viele biblische Traditionen sind patriarchal geprägt, aber gleichzeitig finden sich starke alternative Ansätze in der Bibel, insbesondere bei Jesus selbst.
- Der Gegensatz zum christlichen Glauben ist Götzendienst, nicht etwa andere Religionen als solche.
Die dritte Perspektive: Der biblische Glaube im Kontext anderer Religionen
Biblische Traditionen können nicht isoliert von anderen Kulturen und Traditionen verstanden werden. Nachdem solidarische Stammesstrukturen von aufkommenden Städten und hierarchisch-ausbeuterischen Strukturen bedroht wurden und als in der Folge der wachsenden Arbeitsteilung Geld als Tauschmittel in Gebrauch kam und mithilfe der Zinsnahme zur Aufhäufung von Reichtum missbraucht wurde, gab es an verschiedenen Orten der antiken Welt Versuche, das dadurch verursachte Leiden der Menschen zu überwinden. Im 2. Jahrtausend v. Chr. waren z.B. die Gesetzgebung von Hammurabi oder die Vorstellung eines Endgerichts nach dem Kriterium der Maat in Ägypten Versuche, die entstandenen Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Insbesondere die schnelle Ausbreitung der von Geld und privatem Eigentum bestimmten Ökonomie in Asien und dem östlichen Mittelmeerraum seit dem 8. vorchristlichen Jahrhundert rief verschiedene religiöse und philosophische Gegenbewegungen hervor.
Der Philosoph Karl Jaspers prägte den Begriff „Achsenzeit“ für diese Periode. Er tat dies aber mit idealistischen Kategorien, indem er behauptete, die Menschheit habe sich in dieser Zeit auf eine geistlich und intellektuell höhere Ebene begeben. Jüngste Forschungen haben jedoch gezeigt, dass das Aufkommen der neuen Weltsichten unauflöslich mit der Erfahrung des Leidens verbunden war, das durch die sozialen Folgen der neuen Ökonomie und imperialer Gewalt hervorgerufen wurde.
Der Schrei nach Gerechtigkeit in den prophetischen Büchern und der Tora im Alten Israel, der Ruf nach Ausgleich in China (Konfuzius und Taoismus), die erleuchtete Überwindung der drei Gifte (Gier, Aggression und die Illusion des Ego) durch die Erfahrung des Buddha in Indien können als parallele Ansätze gesehen werden, mit den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen umzugehen.
Die Jesusbewegung und das Urchristentum, die auf der großen Erzählung Israels aufbauen, kann man als zweite Welle dieser Bemühungen interpretieren, den Strukturen und Verhaltensweisen der Ausbeutung und imperialer Gewalt entgegenzutreten. Das bedeutet, dass diese Religionen und Philosophien einen gemeinsamen Horizont teilen, freilich jede mit charakteristischen Besonderheiten. Das Charakteristikum des christlichen Glaubens ist Gottes Identifikation mit den Armen in Jesus Christus, dokumentiert im Leiden am Kreuz, der Strafe des Imperiums für Rebellen und entlaufene Sklaven.Aber auch hier endet dieser Kampf für Gerechtigkeit nicht. Muhammad konfrontierte die Klasse der reichen Händler in Mekka und leitete so eine dritte Welle der Achsenzeitreligionen in der Form des Islam ein.
Die Reformation, die schon vor Martin Luther mit John Wyclif, Jan Hus, Savonarola und anderen begann und sich auch neben und nach Luther durch die Radikale Reformation, Zwingli, Calvin und andere weiter ausbreitete, kann als eine neue Welle der Impulse der Achsenzeit betrachtet werden. Damals war der Kontext das Entstehen der Moderne, die auf der altorientalischen und antiken Eigentums-Geld-Ökonomie und den imperialen Traditionen des Hellenismus und Roms aufbaute. Sie entwickelte diese Ansätze weiter zu den Beherrschungsprozessen und der Rationalität des possessiven Geldsubjekts, den ausbeuterischen kapitalistischen Akkumulationsmechanismen, der wissenschaftlich-technischen Unterwerfung der Natur, dem neuzeitlichen Patriarchat und dem Kolonialismus. Auf der anderen Seite wurden in dieser Epoche auch bedeutsame menschliche Fortschritte erkämpft, die dazu verhalfen, Unterdrückte von Strukturen und Mächten zu emanzipieren, die menschliches Leiden erzeugen. Aber diese dem Leben dienenden Elemente der Moderne gilt es von den zerstörerischen zu befreien.
Heute erleben wir einen Höhepunkt der modernen Zivilisation in ihrer globalisierten Form. Das globale politisch-ökonomische und wissenschaftlich-technische System bedroht das Überleben von Menschheit und Erde. Welche Rolle spielte die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte vom Beginn der Moderne bis heute theologisch, kirchlich und kulturell? Das ist die Kernfrage unseres Projekts. Insofern die Krise global ist, fordert sie alle Betroffenen heraus, der gegenwärtigen Entwicklungstendenz, die in einen Abgrund führt, Widerstand entgegenzusetzen und eine neue Kultur des Lebens zu entwickeln, die die Moderne transzendiert. Wie können die, die sich auf theologische Einsichten der Reformation gründen, die befreiende Macht des biblischen Erbes wiederentdecken, um sich auf dieser Basis selbstkritisch mit den Kämpfen der spirituellen und sozialen Bewegungen für eine „Transmoderne“ zu verbünden? Dieser große historische Rahmen bildet den Hintergrund für das was wir mit „Reformation radikal – provoziert durch Bibel und Krise” meinen.